Mit einem neugeborenen Kind wenige Tage nach der Geburt das Krankenhaus verlassen und sich im heimischen Umfeld an das Leben als Familie gewöhnen – das ist für viele glückliche Eltern heutzutage eine Selbstverständlichkeit. Doch rund jedes zehnte Baby wird zu früh, also vor der 37. Schwangerschaftswoche, geboren und muss meist über mehrere Wochen hinweg im Krankenhaus überwacht und behandelt werden. Wie der kleine Leonel Lopez. Mit nur 29 Zentimetern Körperlänge erblickte er in Frankfurt das Licht der Welt, fast zehn Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Ein Baby, das gerade einmal ein Drittel eines Normalgeborenen wiegt, benötigt erhebliche Unterstützung, um den Start ins Leben zu meistern. Nach vier Tagen intensivmedizinischer Behandlung in Frankfurt zog Leonel um – aber noch nicht nach Hause, sondern in das Perinatalzentrum an den Main-Kinzig-Kliniken Gelnhausen. Damit kam er seiner zukünftigen Heimatstadt Schlüchtern immerhin schon ein ganzes Stück näher. Seine Mutter, Lukalakiese Masamba, hatte er dabei von Anfang an um sich. Auch sie wurde anfangs stationär betreut. Nach ihrer Entlassung aus der Frauenklinik reiste sie fast jeden Tag mit dem Zug von Schlüchtern nach Gelnhausen – knapp zehn Wochen lang – und besuchte den tapferen Leonel für mehrere Stunden auf der Kinder-Intensivstation. Doch zuhause in Schlüchtern musste parallel der Alltag weiterlaufen – was bedeutete: Jeden Tag ein erneuter Trennungsschmerz. Ein innovatives System sorgt nun dafür, dass Eltern der Abschied vom Baby etwas leichter fällt: Eine kleine Kamera über dem Neugeborenenbettchen.
„Eine fantastische Erfindung“, so die 27-Jährige, die zu den ersten Familien gehörte, die das neue Angebot „babywatch“ im Gelnhäuser Perinatalzentrum nutzen. Acht Bettchen und Inkubatoren sind mit einer Kamera ausgestattet, die von den Eltern oder Pflegern eingeschaltet werden kann, sobald sich die Eltern von ihrem Kind verabschiedet haben. „Damit können sie ihr Frühchen sozusagen virtuell mit nach Hause nehmen“, erklärt Dr. Manuel Wilhelm, Oberarzt und ärztlicher Leiter der Neonatologie. Denn zuhause loggte sich Leonels Familie in einen passwortgeschützten Internetbereich ein, der nur ihr selbst zur Verfügung stand, und konnte das Baby rund um die Uhr betrachten. Maximal fünf Kliniken bundesweit bieten Eltern diesen besonderen Service an, berichtet Dr. Wilhelm – in Hessen sei man hiermit Vorreiter. Ein Forschungsprojekt der Berliner Charité im Bereich Neonatologie kam zu dem Ergebnis, dass das virtuelle Besuchssystem eine sinnvolle Ergänzung zum persönlichen Kontakt darstelle. „Stellen Sie sich vor, Sie kommen nach dem Klinikbesuch nach Hause und das Kinderzimmer ist noch leer. In diesem Moment ihr Baby nochmals live und in Farbe betrachten zu können, gibt vielen einfach ein sicheres Gefühl“, beschreibt der Mediziner. Und mehr als das: Es vertieft die Eltern-Kind-Beziehung, die in den ersten Wochen entscheidend geprägt wird. So auch bei Leonels Familie: Mehrmals am Tag betrachteten sie stolz den jüngsten Familienzuwachs. „Einfach zwischendurch, oder abends zum Gute-Nacht-Sagen“, so die junge Mutter. Aufgrund einer sehr hohen Lichtauflösung bietet die Kamera selbst im Nachtmodus eine gute Bildqualität.
Ein besonderer Vorteil war, dass mittels „babywatch“ auch Leonels großer Bruder die Möglichkeit hatte, den Neuankömmling näher kennenzulernen. Jelson ist vier Jahre alt, besucht den Kindergarten und konnte zumindest im Internet jeden Tag seinen kleinen Bruder betrachten. „Er hat sich immer gefreut. Wenn Leonel seine winzigen Fingerchen bewegt hat, hat Jelson es ihm nachgemacht“, erinnert sich seine Mutter lächelnd. „Auch berufstätige Väter, weiter entfernt wohnende Großeltern oder Familienmitglieder, die aufgrund eines Infekts nicht auf die Kinder-Intensivstation kommen dürfen, können anhand des Livestreams die frühe Kindesentwicklung von Anfang an regelmäßig begleiten“, so Dr. Wilhelm. Und insbesondere für den Fall, dass eine Mutter erkrankt oder von der Geburt so stark geschwächt sei, dass ein persönlicher Kontakt zeitweise nicht möglich ist, vermindere das System übergangsweise den gefühlten räumlichen Abstand.
Schon nach den ersten Wochen der Systemeinführung in Gelnhausen ist sich das Ärzte- und Pflegeteam sicher: Die Online-Verbindung stärkt die emotionale Verbindung. „Somit passt ,babywatch’ optimal in unser Konzept einer familienzentrierten Versorgung, das die Bedürfnisse der gesamten Familie in den Fokus rückt“, so Dr. Wilhelm. Technische Voraussetzung für diesen Service: eine Highspeed-Internetverbindung. Die Breitband Main-Kinzig-GmbH hat in Kooperation mit dem Telekommunikationsanbieter M-net im letzten Jahr eine deutliche Steigerung in der Geschwindigkeit des Datenaustauschs ermöglicht. „Das Projekt ,babywatch’ ist ein bemerkenswertes Anwendungsbeispiel des glasfaserbasierten Breitbandnetzes“, freut sich auch Landrat Erich Pipa, der sich als Aufsichtsratsvorsitzender der Kliniken für die W-LAN-Implementierung eingesetzt hat: „Das System unterstützt dabei, das Frühchen von Anfang an in seine Familie zu integrieren.“
Inzwischen ist Leonels Familie nicht mehr auf „babywatch“ angewiesen, um ihn rund um die Uhr bewundern zu können. Der Kleine hat sein Geburtsgewicht mehr als verdoppelt und ist um 12 Zentimeter gewachsen. Aller Voraussicht nach wird er sich weiterhin gesund entwickeln, so die Ärzte. Somit durfte das Baby erneut umziehen – nun endlich nach Hause.